Dummes Volk ?
Politologische Nachbetrachtungen zum Abstimmungsergebnis vom 9. Februar über die Masseneinwanderungsinitiative
Am 9. Februar wurde die SVP-Initiative zur Masseneinwanderung zur Überraschung vieler (und zur Konsternation einiger) mit einem Mehr von Volk und Ständen angenommen. Danach überboten sich die Initiativgegner angesichts des knappen Ausgangs mit Horrorszenarien und Lamenti über den „Fauxpas eines populistisch verblendeten Stimmvolkes“. Da gibt’s Leute, die meinen, das dumme Volk habe die Problematik nicht richtig erkannt, und die nun für eine Umsetzung „light“ oder gar für die Wiederholung der Abstimmung in anderer Form (Ja oder Nein zu Europa) eintreten. Erlauben Sie mir hierzu einige politologische Nachbetrachtungen. Ich stütze mich dabei auf drei wichtige Dokumente: Auf die VOX-Nachbefragungen zur Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative, auf die Analyse der Inseratenkampagnen der Universität Bern (Projekt Année Politique Suisse), und auf den Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle (PVK) zuhanden der GPK.
„Bruch mit Europa in Kauf genommen“
So betitelte beispielsweise die NZZ vom 4. April 2014 zerknirscht die Resultate der VOX-Analyse. Damit liegt das die Initiative bis aufs Blut bekämpfende Blatt insoweit richtig, als sich die Stimmbürger über mögliche Risiken des Entscheids hinsichtlich der Beziehungen zur EU durchaus im Klaren waren und die europapolitische Öffnung zunehmend als Bedrohung wahrgenommen wird. Die angeblich „dummen“ Bürger haben also sehr wohl gewusst, über was sie abstimmen.
Stimmbürger als Opfer der Abstimmungspropaganda ?
Ach wie oft hat man der SVP vorgeworfen, sie gewinne Abstimmungen nur dank des finanziellen Einsatzes etwa von Christoph Blocher für die Propaganda, denn der Bürger liesse sich davon beeinflussen. Die Abstimmung vom 9. Februar belegt das Gegenteil: Gemäss Analysen der Universität Bern stammten drei Viertel der Inserate zur Masseneinwanderungsinitiative aus dem Lager der Initiativgegner. Die angeblich „dummen“ Bürger lassen sich also nicht durch irgendwelche gekaufte Propaganda manipulieren.
Das Wehklagen über die stimmabstinente Jugend
Weiter wurde in den Medien flächendeckend wehgeklagt, die Jungen seien zwar mehrheitlich gegen die Initiative gewesen, aber wegen deren tiefen Stimmbeteiligung (17%) seien gerade sie schuld am „fatalen“ Abstimmungsausgang. Dabei ist es offenbar völlig falsch, zu behaupten, dass die Jungen weniger häufig abstimmen gehen, wie es das GfS-Institut Bern von Claude Longchamp getan hat, auf dessen Umfragen sich die VOX-Analysen stützen. Neueste Erkenntnisse belegen das Gegenteil (siehe z.B. den Artikel in der „NZZ am Sonntag“ vom 13.4.2014 mit dem Titel „Stimmfaule Jugend ? Ganz im Gegenteil !“). Immerhin haben weit über 40% der also absolut nicht so stimmfaulen Jungen JA gestimmt, was angesichts der Ausgangslage (SVP ganz alleine auf weiter Flur gegen sämtliche anderen) ein beachtliches und ernstzunehmendes Ergebnis ist. Weit über die SVP hinaus haben also auch die Jungen anderer politischer Lager die SVP-Initiative gutgeheissen.
Hat das Tessin das Zünglein an der Waage gespielt ?
Gerade im Tessin brüstet man sich etwas damit, dass die Tessiner JA-Stimmen bei dieser Abstimmung den Ausschlag gegeben hätten. Das mag zwar angesichts des knappen Ausgangs zahlenmässig so sein, die Überlegung ist aber gleich doppelt problematisch.
Die Tessiner Argumentation ist nachvollziehbar, denn sie wird mit der Hoffnung angestellt, dass der Südkanton dadurch in Bundesbern endlich mehr Gehör erhält. Aber sie setzt auch falsche Zeichen: Denn Masseneinwanderung und Personenfreizügigkeit mit der EU sind bei weitem nicht ein exklusives Tessiner Problem, um dessen Lösung nur die Tessiner in Bundesbern auf ihren Knien bitten müssen. Das Problem betrifft das ganze Land. Und wenn die Abstimmung gewonnen wurde, dann nicht (nur) wegen den Tessinern, sondern weil das Bewusstsein für die vorweg von der SVP Schweiz thematisierten Problematiken (Ausschaffung krimineller Ausländer inklusive) mit der Zeit und nun sogar in jenen Gegenden (und vor allem Städten) gewachsen ist, die bisher apodiktisch SVP-feindlich votierten.
Zweifelhafte Fairness der Abstimmungsgegner
Ein anfangs April 2014 veröffentlichter Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle (PVK) zuhanden der Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) kritisiert den Vollzug der Personenfreizügigkeit in scharfen Tönen. Rund 8 Prozent der Zugewanderten aus EU/EFTA, die offiziell unter dem Titel der Erwerbstätigkeit in die Schweiz gekommen sind, haben keinen Tag hier gearbeitet und blieben trotzdem länger als ein Jahr als vermeintlich Erwerbstätige im Land. Weitere 13 Prozent waren zu Beginn ihres Aufenthaltes mindestens zwei Monate nicht erwerbstätig, obwohl sie bereits bei der Einreise einen gültigen Arbeitsvertrag hätten vorweisen müssen. Etc.
Dieser Bericht der PVK lag bereits im November des letzten Jahres vor. Gemäss NZZ wäre dem Vernehmen nach eine frühere Publikation durchaus möglich gewesen, sei aber von den Gegnern der Masseneinwanderungsinitiative in der GPK verhindert worden. Sogar die „masseneinwanderungsfreundliche“ NZZ befand dies für „befremdlich“. Und in der Tat: Wenn diese Erkenntnisse über die „Segnungen“ der Personenfreizügigkeit früher bekanntgegeben worden wären, wäre das JA zur Masseneinwanderungsinitiative wohl deutlich höher ausgefallen. Ich wage gar nicht zu überlegen, wie die Abstimmung über Schengen/Dublin ausgefallen wäre, wenn das Volk im Abstimmungszeitpunkt die Wahrheit gewusst hätte (15mal höhere Kosten als budgetiert, Fundamentalirrtum hinsichtlich des versprochenen Rückgangs der grenzüberschreitenden Kriminalität und der Rückführungsmöglichkeiten von Dublin-Flüchtlingen etc.).
Wer immer also das knappe Abstimmungsergebnis zum Vorwand nimmt für eine Umsetzungsobstruktion oder gar für eine Neuabstimmung zum selben Thema, verkauft das Schweizer Volk für blöd und wird für seine Arroganz gegenüber der direkten Demokratie bei den nächsten Wahlen seinen Preis bezahlen müssen.
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