Die Politik muss endlich wieder zum Dienste am Volk zurückfinden !
Editorial
Corriere del Ticino Online vom 2. November 2014: Bern – Ex-Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz schlägt vor, den grossen Parteien in Fraktionsgrösse zu verbieten, Volksinitiativen zu ergreifen. In einem Interview in der „Zentralschweiz am Sonntag“ sagte sie, das Initiativrecht sei nicht für sie, sondern für die nicht in Parlament und Regierung vertretenen Minderheiten geschaffen worden.
Auf das Risiko hin, vulgär zu wirken, muss ich festhalten, dass die Redensart „Mit versch… Hosen lässt sich gut stinken!“ noch nie so treffend auf die Autorin dieser Äusserung zutraf. Es ist denn auch nicht das erste Mal, dass Personen, die einst politische Ämter – oder, wie im konkreten Fall, ein hohes Verwaltungsamt – bekleideten, sich nicht zufrieden geben mit den allenfalls während ihres Mandats angerichteten Schäden, sondern ihre Geltungssucht auch als Ex nicht zu zügeln vermögen; dies durch Aussagen, die nichts anderes darstellen als eine weitere verpasste Gelegenheit zum Schweigen. Das geschah und geschieht oft Personen à la Calmy-Rey, Dreifuss oder Adolf Ogi, wobei Letztgenannter klar die Grenzen des Konkordanzsystems aufzeigt, das effektiv Karrieremöglichkeiten eröffnet innerhalb von Parteien, deren Ideologie und Ziele man nur am Rande teilt. Denn die Bundesratswahlen durch das Parlament führen dazu, dass jene Kandidaten gewählt werden, die es am besten verstehen, sich bei den gegnerischen Parteien beliebt zu machen – auch oder vielleicht sogar durch ihren Verrat an der eigenen Partei. Eveline Widmer-Schlumpf lässt grüssen.
Die Geltungssüchte dieser politischen Halbschuhe – Bedürfnisse, die übrigens jeden Rahmen sprengen angesichts deren klaren Mangels an jenen Qualitäten, die aus einem Politiker einen glaubwürdigen Staatsmann machen – zeigen symptomatisch auf, in welchem Masse in den letzten Jahrzehnten der Wert eines guten Teils unserer Regierenden gesunken ist, und vor allem, in welchem Ausmass sich deren Haltung im Hinblick auf die grundsätzlichen und traditionellen Werte unseres Landes zum Schlechteren hin verändert hat.
Initiativen wurden immer wieder ergriffen. Ein Blick in das chronologische Archiv der Bundesabstimmungen zeigt, dass von 1894 bis heute deren 168 zur Abstimmung gelangten. Zudem auch, dass 108 davon in die ersten 105 Jahre meiner Berechnung fielen, während gut 60 davon in den letzten 15 Jahren zustande kamen. Auch die Zahl der gutgeheissenen Initiativen weist klar zunehmende Tendenz auf: Von den 19 angenommenen Initiativen fanden 9 in den letzten 15 Jahren Zustimmung. Es ist hier vielleicht nützlich, in Erinnerung zu rufen, dass die von Linken, Umweltschützern und – kaum zufällig stets der Linken zuzuordnenden – Organisationen ergriffenen Initiativen bei weitem zahlreicher sind als jene der Rechten zwecks Wahrung unserer Identität. Zudem ist es angesichts des Verfalls unserer Aussenpolitik – insbesondere im Hinblick auf unsere Unterwürfigkeit gegenüber internationalen Organisationen, die uns mit ihren Forderungen immer mehr unterdrücken – auch legitim zu denken, dass Abstimmungen über Initiativen wie „Staatsverträge vors Volk“ oder „Für die Volkswahl des Bundesrates“, die vor nur wenigen Jahren scheiterten, heute ganz anders ausgehen könnten.
Es sind denn vor allem diese beiden Dinge, welche enorm störend sind für die Regierenden, deren Volksferne keinerlei Beweises mehr bedarf (und ich glaube, mit Ecopop wird sich das ein weiteres Mal zeigen): Einmal ist es das immer häufigere Zurückgreifen auf das Volksverdikt mittels Initiativen und Referenden, um deren Fehler auszubügeln, und zum anderen ist es die Tatsache, dass diesen Begehren immer häufiger zugestimmt wird von einem Volk, das kein Vertrauen mehr hat in seine Regierenden.
Bundesbern ist die Kontrolle – oder auch nur das Bewusstsein – über die Lage völlig abhanden gekommen. Da man aber dort dermassen von Arroganz und Anmassung heimgesucht ist, dass man sich all das, was das Volk als Fehler oder, schlimmer noch, als Unehrlichkeit und Böswilligkeit betrachtet, nicht eingesteht, geht es in Bundesbern zu und her wie in einem wildgewordenen Wespennest, und man ergeht sich in jenseits von gut und böse stehende Erklärungen und Vorschläge in alle Himmelsrichtungen. Und einer davon ist just das jüngste Ausposaunen von Annemarie Huber-Hotz, was ich zum Anlass für meinen vorliegenden Artikel genommen habe.
Erstens: Dass der Gesetzgeber bei der Einführung des Initiativrechts lediglich den nicht in Parlament und Regierung vertretenen Minderheiten eine Stimme verleihen wollte, ist eine reine Unterstellung. Es steht mir frei, zu denken – und das tue ich auch – dass dieses Mittel eingeführt wurde, um es dem Souverän zu ermöglichen, allfällige Mängel unter Kontrolle zu halten und nötigenfalls zu beheben, was übrigens im Hinblick auf die damaligen Regierungen weitaus weniger häufig nötig war als in den letzten Jahrzehnten. Aber auch wenn das damals tatsächlich die Absicht war, zeigt sich in der heutigen Zeit, dass die Initiative das einzige Instrument darstellt, um die Anliegen jener Partei, die – wiewohl mit einer relativen Mehrheit – im Parlament eine Minderheit darstellt, da sie gegen die vereinigte Front der gegnerischen Parteien antreten muss. Und die Tatsache, dass ihr das Stimmvolk immer häufiger Recht gibt, zeigt auf, dass ausgerechnet jene gegen den Strom (will heissen: gegen den Souverän) schwimmen, die vorgeben, dessen Interessen zu vertreten – dadurch, dass sie bei jeder Gelegenheit versuchen, dessen Macht einzuschränken (Nichtumsetzung von dessen Beschlüssen, Ungültigkeitserklärungen durch das Bundesgericht, Versuche, die Ausübung der Volksrechte zu erschweren, etc.).
Zweitens wäre das von der guten Frau ersehnte Verbot nicht anwendbar bzw. locker zu umgehen mittels Gründung von ad-hoc-Initiativkomitees, was ja bereits jetzt immer dann getan wird, wenn man die Zustimmung von Leuten aus anderen politischen Lagern einholen will. Dessen ungeachtet muss die Äusserung der ex-achten Bundesrätin ernst genommen werden. Nicht so sehr wegen dessen absurden Inhalts, aber als Warnglocke für unsere direkte Demokratie, welcher Bundesbern bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Kampf ansagt. Das Ziel bleibt stets dasselbe: Die auf Volksentscheiden basierende schweizerische direkte Demokratie umzuwandeln in eine Pseudo-Demokratie nach dem Modell der anderen Staaten des Westens, wo sich der „von oben“ diktierte Wille einer Oligarchie durchsetzt, die das Vertrauen jener missbraucht, die sie alle vier oder fünf Jahre wählen. Ein politischer Blankoscheck an Personen, die das in sie gesetzte Vertrauen immer weniger verdienen. Wir wollen nicht, dass dies auch in der Schweiz geschieht, und deshalb werden wir weiterhin immer dann an das Volk gelangen, wenn wir dies für nötig erachten.
Frau Huber-Hotz möge sich beruhigen: Die Anzahl Initiativen wird automatisch abnehmen, sobald die Politiker wieder das Volk vertreten, das sie gewählt hat, und sobald sie dessen Interessen wieder korrekt und ehrlich wahrnehmen.
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