Gott segne die Digitalisierung…
…und verschone uns, wenn möglich, auch von deren negativen Folgen
Unlängst habe ich in einem renommierten Fachblatt folgendes gelesen:
„Die Digitalisierung treibt uns in die Richtung eines rundum wohl informierten Universaldilettantismus“. Hintergrund dieses Gedankens ist: Die durch die Digitalisierung ermöglichte mentale Entlastung befreie uns zu sehr vor eigenem Denken.
Diese Aussage gibt wahrlich zu Denken, und ist deshalb einige Überlegungen wert. Es stellt sich die Grundfrage, inwieweit man risikolos die durch die Digitalisierung ermöglichte Computerisierung als technische Erleichterung nutzen soll und darf (respektive überhaupt heute noch ohne sie auskommt), ohne global in fatale mentale Abhängigkeiten zu geraten. Doch das beginnt bereits mit der Frage, was denn die „Digitalisierung“ überhaupt sei.
Definition der „Digitalisierung“
Eine allseits anerkannte Definition von „Digitalisierung“ gibt es nicht, ausser einer rein technischen: Es sei die „Umwandlung von analogen Werten in digitale Formate und ihre Verarbeitung und Speicherung in einem digitaltechnischen System“. Das hilft uns gedanklich keineswegs weiter. Denn diese Entwicklung ist Jahrhunderte alt. Sie begann so ab 1829 mit der Einführung der Brailleschrift für Blinde, dann kam das Morsen dazu, später die Funktechnik, das Telefon, die Telegraphie, der Transistor, sodann der Fernschreiber (telex), Telefax und E-Mail. 1993 lag die weltweite digitale technologische Informationskapazität noch bei 3 %, im Jahr 2007 bereits bei 94 % (Zunahme von Breitbandkommunikation, Internet, E-Commerce, Smart Home oder Industrie 4.0 – resp. bald 5.0 – etc.). Wohlverstanden: Die heutigen Computer verarbeiten Informationen nur noch ausschliesslich in digitaler Form.
Die Digitaltechnik (und somit die gesamte Computertechnologie) verwendet ausschliesslich binäre Signale. Sie unterscheidet somit in einem fortlaufenden Prozess lediglich zwischen den zwei Signalzuständen 0 oder 1, bzw. ja oder nein, um komplexe analoge (in Wort und Schrift verfasste Texte oder Bilder) zu verarbeiten. Dieses Prinzip liegt nunmehr allen Erscheinungsformen der digitalen Revolution und der digitalen Transformation im Wirtschafts-, Gesellschafts-, Arbeits- und Privatleben zugrunde.
Alles besser wegen der Computerisierung?
Tatsächlich erhöht die digital vernetzte Kommunikation die Vielfalt technisch-organisatorischer Lösungsmöglichkeiten erheblich und erleichtert rein technisch auch unsere Alltagskommunikation. Ohne Computer und IPhones ist heute kaum noch auszukommen. Meilenweit entfernt (d.h. keine 50 Jahre lang her) ist es, als ich als Student, in noch analogen Zeiten, mit einer mechanischen Schreibmaschine Hermes Baby meine Arbeiten schrieb und dann meine erste elektrische IBM-Kugelkopf- Schreibmaschine als richtiggehende Revolution empfand (heute kriege ich für mechanische Schreibmaschinen nicht mal mehr ein Ersatz-Farbband, und für meine IBM keine Ersatzteile mehr). Meilenweit entfernt die Zeiten, als man als Student noch mit seinen Professoren diskutieren konnte oder mittels Briefpost korrespondierte, und Stunde für Stunde in den Bibliotheken verbrachte und sich aus einem wichtigen Buch die nötigen Angaben herausschrieb. Das Lernen geht heute alles viel einfacher übers Internet, inklusive Examen. Ist das besser, wurden wir dadurch wirklich gescheiter?
Bringt uns die mittels Digitalisierung eingeführte Computerisierung unseres Lebens nebst all den Segnungen nicht auch beträchtliche Beeinträchtigungen, ja birgt sie nicht geradezu erhebliche Gefahren? Hier nachfolgend nur zwei davon:
– Die geistige Verarmung
Sicher, wir mögen heute dank den Computern vielleicht „besser“ (respektive besser gesagt: viel rascher) informiert sein als früher. Weit entfernt sind die Zeiten, als man als Jugendlicher traditionell seinen geistigen und moralischen Erfahrungshorizont noch von den Eltern, den Lehrern oder allenfalls dem Pfarrer erhielt oder durch eigenes Tun und Lernen (auch aus Fehlern) klug wurde. Tempi passati. Dieser Erfahrungsschatz wurde ersetzt durch den Konsum des tagtäglichen „overflows of information“ aus dem Netz. Doch in diesem Netz zirkuliert sehr viel Problematisches: Von den teils bewusst gesteuerten Halb- bis Unwahrheiten der Informationen (fake news) bis hin zu all dem Un- respektive absoluten Blödsinn, der unreflektiert und ohne jegliche Überprüfung und Kontrolle via „Social media“ verbreitet wird, in denen jederlei Schwachsinn im Sekundentakt weltweit weiter verbreitet wird und völlig irrationale Kettenreaktionen auslösen kann. Unreflektierte oder auch bewusst gesteuerte Meinungsmache trat an die Stelle von Facts, und das Veröffentlichte wird unbesehen international geglaubt: Das ist, alles in allem, schon eine Form von „Universaldilettantismus“.
Zur geistigen Verarmung trägt auch bei, dass die Digitalisierung – zwecks Vereinfachung der technischen Verarbeitung und Übermittlung der Inhalte mittels binärer Signaletik– die differenzierte Sprache zusehends durch Symbolismen ersetzt hat. Das begann mit den Piktogrammen, dann kamen die Ikonen-Symbolismen hinzu, dann die Emoticons etc. Symbole ersetzen heute im täglichen Gebrauch, vor allem bei den Jugendlichen, die erlernte (oder zu erlernende) Sprache. Das führt dazu, dass unsere Kinder mehr und mehr kaum noch lesen und schreiben können. Ist diese Infantilisierung des Schrifttums, diese Tendenz zur Rückführung der erwachsenen Menschen auf Kindergartenniveau, nicht auch eine weitere Form von „Universaldilettantismus“?
– Die enorme Abhängigkeit
Die mittels Digitalisierung eingeführte Computertechnik hat infolge der dadurch mehr und mehr zwingend vorgegebenen Benutzung ihrer elektronischen Infrastruktur
zu einer riesengrossen Abhängigkeit der Menschen von der Computertechnologie geführt. Die Zeit ist wohl nicht mehr fern, in welcher man auch in der Schweiz nur noch mittels E-ID mit den Behörden elektronisch verkehren oder demokratisch abstimmen oder Einzahlungen tätigen darf, oder in welcher man bei Migros/Coop etc. nur noch digital via I- oder Smartphone einkaufen kann (denn das analoge Bargeld ist mehr und mehr „out“).
All das offenbar unausweichlich, aber schlecht so. Denn die gesamte IT-Technologie ist enorm pannenanfällig und äusserst angreifbar. Beim kleinsten IT-Problem läuft gar nichts mehr, da steht die Welt still – sei es infolge selbstverschuldeter IT-Pannen, sei es infolge von Hackerangriffen (die immer häufigere Cyberkriminalität lässt grüssen!). Das führt bereits heute mehr und mehr zu Fällen von privatem, lokalem, regionalem oder internationalem elektronischen Kollaps, der teils grosse Schäden verursacht. Davon müssen ja bereits unsere diversen Bundesämter, auf Anfrage hin, gequält regelmässig (diskret) berichten.
Leider ein (fast) fazitloses Fazit
Eigentlich wäre es für den Autor dieses kritischen Artikels angebracht, als Fazit zumindest einen Lösungsansatz für die beschriebenen Probleme zu skizzieren. Ich bin, als nunmehr über 70jähriger, dazu nicht in der Lage. Denn gerade die Coronavirusproblematik hat unlängst den Zwang zur Computerarbeit im Home-Office vorangetrieben (wovon allerdings wichtige Leute wie beispielsweise Bus-Chauffeure oder Pfleger in Altersheimen nicht profitieren können!). Die Digitalisierung unseres Alltagslebens schreitet munter unaufhaltsam voran. Sie hat uns via Computer und Internet sicher höchst willkommene Erleichterungen für unsere Kommunikation gebracht, aber letzten Endes führt sie denn auch, im Sinne des einleitend zitierten Grundgedankens, schon zu einer gedanklichen Verarmung. Somit: Die digitalen Erleichterungen können, sollen (und müssen wir gezwungenermassen) nutzen. Aber wir sollten uns sehr hüten, dabei unser eigenes Denken aufzugeben. Das Netz denkt nicht für uns; das müssen wir schon selber tun, auch wenn das vielleicht mitunter etwas anstrengender ist!
« Il Rabadan e finito, ma molti non ci stanno Eine umstrittene, aber zweifellos kohärente Persönlichkeit »