Ein weiteres ‘68? Nein danke!

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Eros N. Mellini

Editorial

Die Mitte der Sechziger Jahre in den USA entstandene, pseudo-intellektuelle Studenten- bzw. Arbeiterrevolte erreichte 1968 ihren Gipfel. Und auch wir im kleinen Tessin blieben davon nicht verschont. Schon vielen Eltern von damals boten sich Wege an für eine übermässig permissive Erziehung ihrer Kinder, die sie auch einschlugen: Sei es, um die ihnen zufallende Rolle als elterliche Erzieher (eine Rolle, der sie nicht gewachsen waren) nicht übernehmen zu müssen, sei es aus einem legitimen, wenn auch kontraproduktiven Wunsch heraus, dass „unsere Kinder nicht dasselbe Schicksal wie wir erleiden müssen“ – dies unter Hinweis auf die selbst erlebten Schwierigkeiten und Leiden in Zeiten des Krieges und der Armut. Kontraproduktiv ist dies, weil man – dies tuend – unsere Jugendlichen einer überlebenswichtigen Lebenserfahrung beraubt. Für begangene Fehler am eigenen Leibe bezahlen und selbst dafür sorgen zu müssen, Schwierigkeiten und Widerstände zu überwinden.

Das Resultat war, dass auch bei uns die Studentenrevolte sich unheilvoll auf das Schulsystem auswirkte. Die Konsequenzen sind noch heute spürbar, dies trotz vielerlei zwischenzeitlich daran vorgenommenen Änderungen. Das konnte ja nicht anders sein, da die Lehrer von heute mehr oder weniger der zweiten Generation (50 Jahre alt) zu den „Opfern“ des 68er Wechsels angehören; also zumeist sind es Leute, welche das alte System von Gymnasium und Sekundarschule verdammen, ohne es je selbst erlebt zu haben. Seit 50 Jahren erleben wir ständige Anpassungen – von der vereinigten Mittelschule bis zu den Levels A und B, dass man neue und zumeist übertriebene Lernfächer einfügte und sich danach – wenn es einem selbst betrifft – beklagt über deren Level, und deren Abschaffung verlangt, um damit dann die eigenen Kinder von einer Ausbildung nicht ausschliessen, für die sie zumindest momentan nicht qualifiziert sind.

Der Vorschlag von Manuele Bertoli ist sicher nicht das erste „Experiment“. Seit 1968 gab es unzählige „Experimente“, wobei kein einziges von ihnen sich als effizienter erwies als das vorgängige System. Letzterem wird vorgeworfen, ein allein auf Faktenwissen beschränkter Unterricht darzustellen, als stünde am Anfang jeglicher theoretischer oder praktischer Erkenntnisgewinnung nicht immer eine Buchstabengelehrsamkeit. Versuchen Sie einmal, ein mathematisches Problem zu lösen, ohne die arithmetischen Grundsätze – eben die Grundkenntnisse – zu kennen. Oder versuchen Sie, einen korrekten Satz zu bilden ohne Kenntnisse der logischen und grammatikalischen Analyse. Wenn ich als nunmehr älterer Mensch das, was wir einst – ob nach Abschluss des Gymnasiums oder der Sekundarschule spielt keine Rolle – gelernt hatten, vergleiche mit dem kulturellen Schulsack jener, die heute die Mittelschule abschliessen (ich spreche nicht über mittlere oder höhere Studien), komme ich nicht umhin, eine abgrundtiefe Ignoranz festzustellen. Danach gelingt es jenen von ihnen, welche die erste Gymnasialstufe schaffen, vielleicht durch Einsatz und Studium dennoch, die verlorene Zeit aufzuholen, aber es ist eine Tatsache, dass die heutige Mittelschule weit davon entfernt ist, das Qualitätsniveau zu erreichen, das einige Verantwortliche in ihren öffentlichen Erklärungen uns pathetisch weiszumachen versuchen.

Seit 1968 bis heute gilt immer dieselbe Regel: Die Schule solle das lernen, was die Schüler wünschen, diese sollen in die Schulprogramme einbezogen werden, sie müssen gerne zur Schule gehen können, zudem dürfe es keinerlei Selektivität geben, alle sollen Zugang zu allem erhalten. Ich erlaube mir, sämtlichen dieser Punkte zu widersprechen. Erstens: Wenn ich als Schüler am damaligen Gymnasium den Unterricht hätte auswählen dürfen, hätte ich mich nicht für Mathematik oder Deutsch entschieden. Meine – sicher falsche, aber viel vergnüglichere – Wahl wäre auf Spiele aller Art gefallen, auf einige Sportarten und auf Sexualkunde (ausschliesslich heterosexuell), für die ich sogar Experimente geschätzt hätte, dies mehr als ein halbes Jahrhundert vor Bertoli. Zweitens: Dasselbe gilt für den Einbezug in die Schulprogramme. Wenn ich im Alter von 15 Jahren nicht in der Lage bin, über meine Zukunft zu entscheiden – da sind wir uns hoffentlich alle einig – sehe ich nicht ein, wie und warum ich mit meinem totalen Unwissen in irgend einer Art und Weise den Unterricht für mich hätte bestimmen sollen. Vielmehr sollte allenfalls der Unterricht dazu beitragen, den Jungen ihre Zukunftswahl zu erleichtern, und nicht umgekehrt. Drittens: Warum sollten die Jungen denn unbedingt gerne in die Schule gehen müssen ? Wenn das heute so ist, dann wahrscheinlich gerade deshalb, weil sie in Fächern unterrichtet werden, die ihnen gefallen. Aber erlauben Sie mir den Einwand, dass das, was einem Jugendlichen von 6 bis 15 Jahren gefällt, schwerlich dem entspricht, was er später als Erwachsener als Wissen benötigt. Ich bin, ehrlich gesagt, nie gerne zur Schule gegangen, dies eben gerade deshalb, weil ich Dinge lernen musste, die mich überhaupt nicht interessierten, aber heute überaus froh bin, dass sie mir eingepaukt wurden. Die Eliminierung jeglicher Selektivität – das Steckenpferd von Bertolis „Scuola che verrà“ (die Schule von morgen) – er nennt das „Einbeziehung“ – ist grundsätzlich falsch. Sie bietet lediglich zwei Szenarien an, die man einzeln oder gemeinsam betrachten kann: Entweder man nimmt den begabteren Schülern viel Zeit (und entsprechend viel Motivation) weg, indem man den Unterricht für sie verzögert, weil sie auf die Lernerfolge der „um jeden Preis Einzubeziehenden“ warten müssen – mit entsprechender Aufblähung des Lehrkörpers – oder aber man setzt die Hürden herunter für den anschliessenden Zugang zu Lehrgängen der höheren Stufen, was übrigens in Frankreich auf Universitätsstufe erprobt wurde und dort zwar zu einer Zunahme, aber massiven Qualitätseinbusse der Abschlüsse geführt hat.

Heute erlauben es die „Anlegestege“ zwischen der Lehre und den höheren Studien – die bei mir keine besondere Begeisterung hervorrufen – all jenen, welche die Fähigkeiten dazu haben, ihre Ausbildung fortzusetzen bis zum höchsten Niveau. Aber dass alle Zugang zu allem erhalten sollen, ist ein absurder Kraftakt. Abgesehen von den Prestigeambitionen, die oft bei den Eltern grösser sind als bei den Studierenden, ist es keineswegs eine Schande, einen Beruf zu wählen statt einen Universitätsabschluss anzustreben. Ein Handwerksberuf ist ebenso ehrenhaft wie eine Tätigkeit als Anwalt oder Arzt.

Ich mag vielleicht ein alter Reaktionär sein, aber ich hege eine leider utopische Vorstellung: Wenn es möglich wäre, würde ich mir wünschen, dass man zurück kehrte zum vielleicht etwas faktenwisserisch orientierten, aber erprobten System des Gymnasiums und der Sekundarschule.

Nun ist es sicher zutreffend, dass die Schule einiger Änderungen bedarf, aber vielleicht bedürfte es, wenn es die 68er Bewegung nicht gegeben hätte, die eine oder andere weniger. Schädlich ist es, dass die seither veranlassten Änderungen allesamt ideologisch motiviert waren, und ebenso ist es die von Bertoli vorgeschlagene Experimentierung. Es wäre höchste Zeit, damit aufzuhören, und sich stattdessen Korrektive auszudenken, welche nicht die Zukunft einiger tausend „Opfer“ gefährden für den Fall, dass das Experiment Schiffbruch erleidet.

Das 68er Experiment genügt uns vollauf. Hören wir auf mit weiteren unüberlegten leichtsinnigen Experimenten. Deshalb: NEIN zur „Scuola che verrà“.

 

 

** Im Tessin waren früher das « ginnasio » und die « scuola maggiore » zwei gleichwertige Schulsysteme, ersteres ausgerichtet auf Schüler mit höheren Studienambitionen, zweiteres eher auf eine handwerkliche Lehre Ausgerichtete. Dieses Bildungssysteme wurden danach eliminiert zugunsten der heutigen „scuola media“ für Jugendliche von 11-15 Jahren.

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