Schiller oder Churchill? Zwei nicht unvereinbare Thesen

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Eros N. Mellini

Editorial

Friedrich Schiller: „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn. Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen“.

Winston Churchill: „Es wurde gesagt, die Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind“.

Ein zu uns übersiedelter Italiener sagte zu mir: „Welch eine Absurdität, es wäre an der Zeit, mit all diesen Abstimmungen aufzuhören, an denen nur rund 30% der Stimmberechtigten teilnehmen. Wählt doch eure Personen und lässt die dann ihre Arbeit tun“. Dieser Satz entbehrt nicht einer gewissen Logik, wenn er nicht von jemandem geäussert würde aus einem Land am Rande des Ruins (Staatsschulden von 2’300 Milliarden Euros), dies wahrscheinlich gerade deshalb, weil das dortige politische System der repräsentativen Demokratie die gewählten Personen zu einer unantastbaren Kaste gemacht hat, die jeder Kontrolle entgleitet seitens jener, welche sie und ihre Exzesse mittels hoher Gebühren und Steuern am Leben erhalten.

Die Illusion, dass sich etwas verändern wird

Zu glauben, dass in einem System, in dem die Misswirtschaft nunmehr institutionalisiert ist, eine Protestbewegung – gleich einem seit langem erwarteten Messias – der Korruption, der Protektionswirtschaft, dem „magna magna“ und allen Ungerechtigkeiten ein Ende bereiten könnte, ist eine Utopie, an die nur noch ein Teil des einfachen Volkes verzweifelt glaubt bzw. vielmehr hofft. In Italien zum Beispiel ist es zuerst der Lega Nord und nun dem Movimento Cinque Stelle gelungen, einen beträchtlichen Teil der Wählerschaft gar mit absurden Versprechen (zum Beispiel dem bedingungslosen Grundeinkommen) zu manipulieren oder zu täuschen mit ihrer Garantie, dass sie – einmal gewählt – dem ganzen System eine Wende zum Besseren geben würden. Das sind reine Luftblasen. Das System ist konsolidiert, und nach dem Festrummel müssen die gewählten Personen sich so oder so darin integrieren und sich seinen Regeln anpassen. Deshalb ist ihr Spielraum äusserst beschränkt. Zudem verfügt der Mensch über eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit, welche es ihm eindeutig leichter macht, nach Manier seiner Vorgänger zu handeln als Neues zu erfinden und damit Schiffbruch zu erleiden, was das Ende seines persönlichen unverhofften Wohlstandes bedeuten könnte. Anders gesagt: Wenn jemand in einem ehrbaren Beruf 1’500 Euros monatlich verdient hat, wird er schwerlich 10-15’000 Euros an monatlichen Parlamentsgeldern riskieren, um mit wenig Erfolgsaussichten seine im Abstimmungskampf gepredigten heiligen Prinzipien zu vertreten. Aber auch sonst: Auch wenn man noch an ehrenhafte politische Ideale glaubt, stellt man bald einmal fest, dass man zu deren Realisierung vorerst die richtigen Posten besetzen muss, und dass man – wenn man Mehrheiten erzielen will – einen politischen Konsens nur herbeiführen kann, wenn man dem politischen Gegner in anderen Bereichen vielleicht gar seiner eigenen Ansicht widersprechende Zugeständnisse macht.

Ist die Mehrheit unfehlbar? Nein, aber sie hat immer Recht

Sicher nicht, aber im System der direkten Demokratie hat sie immer Recht. Wie kann man seinen Hang unterdrücken, Schiller Recht zu geben, wenn eine Abstimmung nicht nach eigenem Wunsch ausgeht? Persönlich grolle ich, ärgere mich und verfluche Volksentscheide, die auf absurde Weise meine Freiheiten einschränken – insbesondere jene zu Schengen/Dublin, der Personenfreizügigkeit und viele andere mehr – aber ich lasse mich anregen von Churchill, und da ich die Spielregeln gut kenne, akzeptiere ich das Ergebnis sportlich. Im Gegensatz zu vielen meiner Mitbürger berufe ich mich nicht auf ein angebliches Recht der Minderheit, wonach deren Position auch im Falle einer Niederlage zu berücksichtigen sei. Wer eine Abstimmung gewonnen hat, setzt seine Politik fort, und wer nicht dann eben nicht. Und da treten einige Probleme hervor: Insbesondere in Bundesbern hat Schiller viele Anhänger, die seine eingangs erwähnte Aussage vollauf stützen. Jedenfalls dann, wenn das Volk Bundesberns Willen nicht befolgt; wenn doch heisst es dann: „Das Volk hat seine Reife bewiesen“ oder „das Volk hat begriffen“ oder „das Volk hat sich nicht in die Irre leiten lassen“… und weiteren ähnlichen Unsinn. Und leider ist es in letzter Zeit, wenn das Volk „seine Reife NICHT bewiesen hat“, zur unheilvollen Gewohnheit geworden, willkürlich dessen Willen zu ändern; siehe die Nichtumsetzung der Masseneinwanderungsinitiative oder jener über die Ausweisung krimineller Ausländer oder der lebenslangen Verwahrung gewalttätiger Straftäter.

Eine Diktatur der Erleuchteten?

Wahrscheinlich wäre das die idealste Regierungsform, wenn es denn nicht so wäre, dass wir uns ständig an die verderblichen Folgen der Diktaturen erinnerten und nicht an die Regierungsformen der „erleuchteten“ Art. Jedenfalls scheinen deren Nachteile eindeutig grösser zu sein als deren Vorteile, und deshalb lohnt es sich nicht, ein solches Risiko einzugehen. Ich komme übrigens nicht umhin, gewisse Analogien zu erkennen zwischen einer repräsentativen Demokratie wie jener Italiens – die in Tat und Wahrheit eine Diktatur einer ministerialen Oligarchie darstellt aufgrund der parlamentarischen Mehrheit, die sie oft mittels Androhung einer „Vertrauensabstimmung“ herbei führt – und einer Diktatur im eigentlichen Sinne. An „Erleuchtung“ scheint es mir in beiden Systemen oft zu mangeln.

Die direkte Demokratie hat uns bisher vor einem EU-Beitritt bewahrt

Fakt ist, dass die bei uns seit Jahrhunderten existierende direkte Demokratie praktisch sämtlichen anderen Ländern der Welt fremd ist. Die Schweizerinnen und Schweizer stimmen in einem einzigen Jahr häufiger ab als es die Bürger anderer Länder in ihrem ganzen Leben tun. Das ist so, aber wen stört das, wenn nicht die Politiker und Parteien dann, wenn sie vom Volk abgestraft werden? Hingegen stellt die die direkte Demokratie (auch wenn man das in letzter Zeit etwas relativieren muss) ein unüberwindbares Sicherheitsventil dar zum Schutz vor bestrittenen oder gar unseligen Entscheiden. Eines von vielen Beispielen: Die Ablehnung des Beitritts zum EWR resp. zur EU, dank der Volksabstimmung von 1992 und der folgenden. Es ist zwar zutreffend, dass das Volk aufgrund von Informationen abstimmt, die es von wenigen Interessengruppen, Parteien, Organisationen oder der Regierung erhält – und leider schreckten diese, namentlich letztgenannte, nicht vor Falschinformationen wenn nicht gar vor Lügen zurück (siehe die Lügen der Regierung über die Kosten von Schengen oder die Einwanderungszahlen aufgrund der Personenfreizügigkeit) – aber es ist ebenso zutreffend, dass der Abstimmungskampf allen interessierten Kreisen offen steht. Zudem hat das Schweizer Volk bis anhin insgesamt eine kollektive Weisheit an den Tag gelegt, die sicherlich jener der 246 eidgenössischen und der 90 Tessiner Parlamentariern des Grossen Rates in nichts nachsteht.

Die tiefe Stimmbeteiligung? Die Abwesenden haben stets unrecht

Mein Freund aus Rom erwähnte, übrigens nicht zu Unrecht, die schlechte Stimmbeteiligung. Sicher ist es bedauerlich, dass unsere wertvollen demokratischen Rechte nicht häufiger mit dem nötigen Engagement wahrgenommen werden, aber diesen Vorwurf muss man an die Stimmbürger selber und nicht an die direkte Demokratie als solche richten. Denjenigen, welche nun hinsichtlich der jüngsten kantonalen Abstimmung die tiefe Stimmbeteiligung von 32,4 % beklagen, worauf 50,1 % der Stimmberechtigten die Steuerreform durchbrachten (was insgesamt nur 16 % der Stimmberechtigten entspricht), antworte ich: Das ist sicher so, aber abgesehen davon dass 35’000 Bürgerinnen und Bürger immer noch repräsentativer sind als 90 Parlamentarier, haben die 67,6 % Stimmabstinenzler nicht gezeigt, ob sie mit der Gesetzesvorlage einverstanden waren oder nicht, sondern dass ihnen die Sache einfach egal war. Und so sollten wir kein Aufhebens darüber machen: Entschieden haben jene, denen die staatlichen Angelegenheiten am Herzen liegen.

Obschon ich für Schillers These Sympathie empfinde, entscheide ich mich für Churchill

Ja, denn alles in allem finde ich, dass unser System das Beste (oder das am wenigsten Schlechte) ist, das derzeit auf dem Markt erhältlich ist. Ich nehme es nicht hin, dass gewisse Leute, obschon sie jederzeit irgendwelche Rechte beanspruchen, es nicht für nötig erachten, sich die Mühe zu nehmen, 3 bis 4mal pro Jahr abstimmen zu gehen. Dies vor allem jetzt, wo man ja auch brieflich abstimmen kann. Auch in der Schweiz nimmt die Missachtung der Gesetze und der Verfassung seitens der „Classe politique“ überhand. Und gerade deshalb kommt der Kontrolle durch das Volk grosse Bedeutung zu. Es ist besser, 100mal zu oft als ein einziges Mal zu wenig abstimmen zu gehen.

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