Zurück im Garten
Es sind seltsame drei Wochen, die wir hinter uns haben – keiner aus unserer Generation hat je so etwas erlebt. Im Rahmen der Schutzmassnahmen gegen Covid-19 ist die ganze Schweiz stillgelegt worden. Lediglich die Läden, die Lebensmittel verkaufen, dürfen geöffnet werden. Der Kanton Tessin ging da einen Schritt weiter: Menschen über 65 erhielten das ausdrückliche Verbot, persönlich einzukaufen, ganz unabhängig von ihrem Gesundheitszustand und ihrem speziellen Risiko. Offenbar traute man den Senioren nicht zu, die Vorschriften des «social distancing» einhalten zu können. In dieser Notlage haben die Gemeinden – in meinem Fall Maggia – einen hervorragenden Service eingerichtet. Und da gebührt all den Freiwilligen von den Pfadfinderinnen und Pro Senectute, die diesen sichergestellt haben, ein ganz grosser Dank!! Das ist die eine Seite der Medaille, die positive. Daneben gibt es aber auch die andere Seite, die eine Menge von Fragen aufwirft. Ich habe mich geschämt, dass ich als doch noch ganz rüstiger 68-jähriger, der 200 m neben Coop und Migros wohnt und problemlos die Einkäufe – auch die Wein- und anderen Flaschen – nach Hause schleppen kann, mich von Freiwilligen bedienen lassen musste. Mehrheitlich kamen ja nicht die Pfadfinderinnen, sondern deren Mütter mit den Lebensmitteln zu uns. Als Familienfrauen haben sie wohl viele dringendere Aufgaben, als mir die Einkaufstaschen nach Hause zu tragen!
Wir alle haben mitbekommen, dass im ganzen Kanton der Ärger über diese Massnahme gegen die Senioren (nicht für die Senioren!) gross war. Eine Flut von Leserbriefen erschien in allen Tessiner Zeitungen. Die Annahme, dass nur ältere Menschen nicht im Stande seien, Distanz zu halten ist am Fernsehen schnell widerlegt worden: Da wurde doch in einem Beitrag der Empfang der aus Übersee zurückgeholten Schweizer Austauschstudenten gezeigt: Sie stiegen aus dem Flugzeug und umarmten reihenweise – wie wenn es kein Corona-Virus gäbe – ihre Eltern und die Schulkolleginnen und -kollegen. Wohlverstanden: das waren die Generationen der Studenten und ihrer Eltern. Ich wage zu behaupten, dass die Generation der Grosseltern in dieser Situation vernünftiger gewesen wäre. Aber genau diese Generation wurde vom Staat dazu verurteilt, dass sie vor den Einkaufsläden, wo sie tagtäglich als Kunde gern gesehen war, plötzlich am Betreten gehindert und schnöd abgewiesen wurde. Ein Gefühl, das viele von uns bis heute nicht verdaut haben. Auf meinen Leserbrief in der TESSINER ZEITUNG hin, bekam ich eine Menge von zustimmenden Rückmeldungen, aber auch von Leuten, die uns Respektlosigkeit vorwarfen und die Anliegen unserer Generation nicht verstehen konnten. Dabei lag ja seit mehreren Tagen ein sehr vernünftiger und brauchbarer Vorschlag auf dem Tisch: Giorgio Ghiringhelli (GUASTAFESTE sei Dank!) beantragte die Einführung von Zeitfenstern fürs Einkaufen der Senioren (unterdessen endlich von der Regierung für die Zeit nach Ostern genehmigt!). Ein Vorschlag, der wohl alle medizinischen Bedenken bezüglich Ansteckungsgefahr berücksichtigt, natürlich nur, wenn auch die Jungen mitmachen und nicht zur selben Zeit wie die Senioren in die Läden drängen.

Ramona aus Maggia, eine der Freiwilligen von den Pfadfinderinnen, die den über 65-jährigen die Lebensmittel nach Hause bringen.
Ich möchte hier darauf verzichten, all diejenigen Politiker und Experten namentlich zu nennen, die auf die Anliegen der Senioren und den Vorschlag betr. Zeitfenster gar nicht eintreten wollten, ja sogar noch einen Brief an die Regierung schickten mit der Bitte, all die Beschränkungen doch noch weitere drei Wochen beizubehalten. Wie schnell es doch geht: noch vor einem Jahr, bei den eidgenössischen und kantonalen Wahlen, bemühten sich zahleiche Kandidaten um die doch so wertvollen Stimmen der «Alten», die sie heute ausgrenzen und aus den Einkaufsläden weisen lassen. Stattdessen möchte ich stellvertretend für viele denjenigen Persönlichkeiten danken, die sich für die Wiederherstellung unserer Rechte eingesetzt haben: Neben Giorgio Ghiringhelli (bekannt für viele erfolgreiche Aktionen!) der ehemalige Präsident der UDC Ticino Pierre Rusconi sowie der Unternehmer und Musiker Franco Ambrosetti.
Nun, etwas Gutes hatten die schwierigen drei Wochen dennoch: Ich blieb zuhause und arbeitete im Garten (ging also nicht in den Kanton Uri einkaufen). Ich las die Zeitungen intensiver und beschäftigte mich wieder viel mehr mit meinen Büchern. Ich erinnerte mich wieder an meinen früheren Beruf, in dem ich mich mit der Literatur der alten Griechen und Römer beschäftigt hatte. Hat nicht der berühmte Philosoph Epikur seine Schulstunden ausdrücklich in einem Garten abgehalten und seinen Schülern beigebracht: « λάθε βιώσας » was auf Deutsch soviel heisst wie «Lebe im Verborgenen»? War es nicht einer seiner Nachfolger, der römische Schriftsteller Horaz, der den Satz « beatus ille, qui procul negotiis … » («Glücklich ist, wer weit weg von den politischen Geschäften lebt…» geprägt hat? Dank dieser drei Wochen Ausgangsverbot habe ich es nun endlich auch geschafft (nebenbei gesagt: mein Amt bei der ds-SVP Tessin endet, auch ohne Corona-Virus, in diesem Monat – nur kann ich im Moment keine GV zur Amtsübergabe abhalten…) und beginne einen neuen Lebensabschnitt, selbstverständlich wie Epikur im Garten. Epikur würde einwenden: «Es hat lange gebraucht, bis Du es begriffen hast…» und ich würde entgegnen: «Besser spät als nie!». In diesem Sinne verabschiede ich mich von den Lesern von IL PAESE!
« Lettera aperta al Consiglio di Stato: Covid-19, misure sussidiarie cantonali a sostegno dell’economia e dei posti di lavoro. Gesundheitswesen und Wirtschaft müssen (bestmöglich) ausbalanciert werden »