Was, wenn sich das Tessin auflehnen würde ?
Editorial
Ich bin nicht einer von denen, die sich von den Deutschschweizern gering geschätzt fühlt. Ich sage das als Tessiner, als Angehöriger einer etwas besonderen Minderheit oder jedenfalls von etwas eigentümlichen Leuten mit mitunter unverständlichen Verhaltensweisen, um die man uns allerdings manchmal auch beneidet wegen unserer unkonventionellen Art, die ihnen völlig abgeht. In meinen häufigen Kontakten mit unseren Miteidgenossen habe ich oft Neugier, mitunter vielleicht ein fehlendes Verständnis für unsere Belange festgestellt, das sie allerdings oft – von uns willkommen – dazu veranlasst, sich nicht in unsere Angelegenheiten einzumischen. Aber eine Geringschätzung habe ich nie verspürt. Sicher sind die Deutschschweizer in der Mehrheit, und gewisse Entscheide gehen nach dem normalen Verlauf der Dinge zu ihren Gunsten aus. Aber wenn immer ich mir die Mühe genommen habe, ihnen die Gründe für ein besonderes Tessiner Bedürfnis darzulegen, habe ich stets aufmerksame und uns wohlgesinnte Gesprächspartner angetroffen.
Was man hingegen in letzter Zeit immer häufiger feststellt, ist eine uns Tessinern gegenüber an den Tag gelegte negative Haltung seitens Teilen von Bundesbern (das nicht nur aus Deutschschweizern besteht). Diese ist jedoch nicht so sehr auf eine besondere Geringschätzung unserer sprachlichen Minderheit zurückzuführen, sondern auf einen regionalen Egoismus, der sich in mageren Jahren deutlicher manifestiert. Zudem wird er gefördert von einer unverantwortlichen Politik, welche die einheimische Bevölkerung finanziellen Problemen aussetzt, um dafür umso mehr Geld für internationale Aktionen zu verschleudern, welche nur dem Ruhm und persönlichen Prestige weniger Politiker dienen. Oder um völlig willkürlich branchenspezifische Politiken zu vertreten, die als unantastbares Dogma betrachtet werden. Ein praktisches Beispiel: Die ausgegebenen Milliarden für die Entwicklungshilfe für die armen Länder, ohne dass es damit gelingt, aus diesen Ländern eine Zuwanderung zu bremsen, welche sowohl unsere Ausländer- als auch die Asylpolitik in die Krise stürzt. Oder die jährlich ausgegebenen Millionen für das Schengener Abkommen (gemäss den Behauptungen während des Abstimmungskampfes hätten es 7 oder 8 sein sollen, in Tat und Wahrheit sind es um die 100 Millionen), welches unser Land zu einem richtiggehenden Eldorado für sämtliche Kriminellen Europas gemacht hat. Im Sektor des Strassenverkehrs haben Regierung und Parlament – obschon die Strasse jährliche Einnahmen von 9,5 Milliarden Franken generiert – schon seit langem beschlossen, dass ihm in Form von Investitionen und für den Unterhalt höchstens 30% dieser Summe zurückerstattet wird. Resultat: Statt dass wir – wie es eigentlich sein sollte, denn die Strassenabgaben sind theoretisch zweckgebunden für Ausgaben zugunsten des Nationalstrassennetzes – über ein voll ausgebautes und tragfähiges Nationalstrassennetz verfügen, für welches die erwähnten Ausgaben mehr als hinreichend wären, teilt man die 70% des dem motorisierten Verkehr entzogenen Geldes anderweitig zu (grösstenteils der Eisenbahn und der allgemeinen Bundeskasse) und reduziert damit das Investitionsvolumen für Strassenbauprojekte auf wenige Milliarden Franken. Es ist deshalb klar, dass angesichts derart beschränkter finanzieller Disponibilitäten jeder versucht, die Decke auf seine Seite zu ziehen. Und das Tessin ist zahlenmässig nicht stark genug, um der Decke einen entscheidenden Ruck auf seine Seite zu geben.
So haben wir in jüngster Zeit Ohrfeigen erhalten, welche wieder einmal unseren Minderheitskomplex gegenüber den anderen Landesteilen akzentuiert haben. „Man betrachtet uns als das letzte Rad am Wagen“, „das Tessin ist den Bundesbernern völlig schnuppe“ und andere solche Aussagen sind wieder in aller Munde. Wie sollte man dem widersprechen, wenn man (um schon nur im Bereich der Strassenprojekte zu bleiben) bedenkt, dass uns das UVEK – nachdem man diesbezüglich mannigfache Zusicherungen abgegeben hatte und nachdem man die ganze Abstimmungskampagne gegen die Lega-Initiative um den Malcantone-Tunnel mit dem Argument geführt hat, dass eine weitere Verschiebung uns um die Bundessubventionen gebracht hätte – schliesslich sagte: „Keine Subventionen für die Umfahrung Agno-Bioggio“ ? Oder dass vor wenigen Tagen Bundesrätin Leuthard seelenruhig sagte: „Der Locarneser Autobahn-Anschluss A2/A13 ? Das ist nicht für morgen!“. Das ist, wie wenn man uns sagte: Zuerst kommen die anderen, erst danach…wenn dann noch etwas übrig bleibt, kommt dann auch das Tessin zum Zug. Und, um mit dieser unseligen Philosophie fortzufahren, wollen sie nun auch den Preis der Autobahnvignette um 150% erhöhen.
Kann das Tessin in diesem hoffnungslos erscheinenden Szenario etwas unternehmen, um seine Lage zu verbessern ? Meines Erachtens ja, aber unter zwei zwingenden Bedingungen:
- Unsere „classe politique“ muss damit aufhören, all das als unveränderliches Dogma zu betrachten, was uns das zumeist mit unseren regionalen Besonderheiten unvertraute Bundesbern vorschreibt.
- Wir müssen den Mut haben, konkrete Gegenmassnahmen zu ergreifen, d.h. Bern beim Geldsäckel zu packen, so wie wir es 2011 in einem Anflug von Mut gegen Italien getan haben, der leider einzigartig gewesen zu sein scheint: Mit der Blockierung der Erstattung der Quellensteuern der Grenzgänger an Italien.
Wir müssen den Mut aufbringen, etwas zu unternehmen (etwas eindeutig Illegales, was aber angesichts der heutigen Lage überaus gerechtfertigt ist) um Bern klar zu machen, dass dem Bund nicht an einer intransigenten Haltung gegenüber unseren berechtigten Forderungen gelegen sein kann. Dies auch dann, wenn wir alles in allem vielleicht auch als Verlierer vom Platz gehen würden – aber dieses Risiko müssen wir in Kauf nehmen.
Es wäre dies eine Auflehnungshaltung, die aber nicht als einzige Stimme eines Rufers in der Wüste à la Michele Barra im Raume bleiben darf, sondern – für einmal – die kollegiale Haltung des gesamten Staatsrats mit Unterstützung des Grossrats sein muss. Die Zustimmung der Tessiner Bevölkerung kann meines Erachtens als sicher vorausgesetzt werden.