Sind wir gemeinsam stark?
Editorial
Ehrlich gesagt, scheint dieses Motto im Zeitpunkt von Wahlen für viele Leute seine – durchaus stringente – Logik zu verlieren. Man sagt, dass Politik die Kunst des Kompromisses sei; damit stimme ich überein, zumindest solange der Kompromiss nicht umschlägt in übermässige Prostitution zum Zwecke, persönliche Profite zu erzielen zum Nachteil der Allgemeinheit. Aber nirgendwo so wie im Tessin erleben wir eine so starke Zerbröckelung der Parteien, hervorgerufen durch individualistische Geistesgrössen, die es immer schon besser zu wissen glaubten.
Das Phänomen Lega ist unwiederholbar
Und wer weiss, vielleicht wüssten viele Leute es tatsächlich besser als jene, die heute am Ruder sind – wozu oft nicht allzu viel nötig wäre – aber sie werden nie in die Lage kommen, dies beweisen zu können, weil ihre Wählerschaft nicht jene kritische Masse erreicht, um gewählt zu werden, und – sollten sie gewählt werden – um ihnen den nötigen politischen Rückhalt zu geben.
Persönlich erinnere ich mich, dass ich in den 70er Jahren – auch ich habe meine Jugendsünden begangen – aus Protest für den Partito d’azione democratica (Pad), der dann zum Partito Anfimafia (Pam) von Stelvio Stevenoni wurde, gestimmt habe, für einen irgendwie geistigen Vorgänger von Nano Bignasca, der sich gegen das Missmanagement im Palazzo delle Orsoline auflehnte. Dies tat er mit einem gewissen politischen Erfolg auf kommunaler Ebene – er schaffte es in den Stadtrat von Ascona – hatte aber weniger Glück auf kantonaler Ebene, wo ihm die Wahl in den Grossen Rat nicht gelang.
Wie im Falle seiner Bewegung, hat sich in der politischen Landschaft des Tessins in den vergangenen 50 Jahren eine Myriade von Parteien, Kleinstparteien, Protest- oder Themenbewegungen präsentiert, die es im besten Fall zur Erlangung von einem einzigen oder zwei Sitzen im Grossen Rat gebracht haben, im schlimmsten Fall zu einer Handvoll Stimmen von Verwandten und Freunden und der pathetischen Befriedigung, sagen zu können: «ich war auch dabei». Ja, dies weil das «Phänomen Lega» vielerlei Leute eitel gemacht und sie in den Glauben versetzt hat, sie könnten deren Resultate ebenso gut erreichen. Aber diese Leute vergessen zwei Dinge: Erstens, dass Giuliano Bignasca seine Bewegung nach dem vorgängig zweijährigen Bestehen seiner Wochenzeitung «Il Mattino della Domenica» gründete, mittels welcher er die Möglichkeit glaubhaft darzustellen vermochte, dass die neue Partei die Ziele erreichen könnte, welche er Sonntag für Sonntag mit seinen Kritiken veröffentlichte; dass er «ul tavolin da sass» (Steintisch) wie er, der «Nano», die bis anhin als unüberwindbar geltende Klientelpolitik der historischen Parteien zu nennen pflegte) stürzen könne. Zweitens, dass Bignasca Unmengen von Geld in seine Bewegung und in seine Zeitung investierte; sehr viel mehr als seine heutigen Nacheiferer zur Verfügung haben oder auszugeben bereit sind. All dies zeigt sich dadurch, dass die Lega seit dem frühen Hinschied ihres Gründers leichte, aber kontinuierliche Wählerschaftseinbussen erlitt.
All dies macht das «Phänomen Lega» unwiederholbar, zumindest kurz- bis mittelfristig, und wer immer sich der Illusion hingibt, mit dem gleichen Erfolg in deren Fussstapfen treten zu können, irrt sich gewaltig.
Entzweiungen gibt es vor allem bei der Linken
Als SVPler kann ich mich nur darüber freuen: Die Abspaltungen, welche das Aufkommen der jüngsten Kleinstparteien begleiten, treten vor allem bei der Linken auf: MPS, POP, Più Donne, und neuerdings die Bewegung «Avanti» von Amalia Mirante rauben der SP Stimmen, und da nun im Tessin Listenverbindungen nicht mehr möglich sind, schwächen sie die Linke. Natürlich können sie dann im Rat zu den einzelnen Anträgen gleichlautend abstimmen, aber die Erfahrung lehrt uns, dass dies nicht immer der Fall ist. Zudem führt die Zersplitterung dazu, dass keine der involvierten Parteien von den Restmandaten (Anzahl Stimmen, die nach der Sitzverteilung übrig bleiben) profitieren kann, die – wenn sie einer einzigen Partei zugeteilt würden – zum Gewinn eines zusätzlichen Sitzes führen könnten.
Denaturierte Parteien
Wenn die Rechte – SVP und Lega – sich darüber freuen darf, kann man dasselbe nicht sagen für die historischen Parteien. FDP und Mitte (ex CVP) haben im Verlaufe der Jahre ihre «Dachfunktion» übermässig verbreitert und in ihren Reihen Exponenten jeglicher politischen Ausrichtung aufgenommen. Dies, um das Wählerschaftsbecken zu vergrössern, unter dem Motto «zuerst erlangen wir die grösstmögliche Anzahl Sitze, die wir sodann irgendwie unter uns verteilen können». Was eine Demarkationslinie zwischen rechts und links darstellen müsste, ist mittlerweile zu einer immer grösser werdenden Wählerschicht geworden, in welcher sich klar linke mit ebenso klar rechten Elementen vermischen, dazwischen sind die mehr oder weniger moderaten Positionen der beiden Tendenzen. Der radikale (eher soziale) Flügel der FDP und der geradezu gewerkschaftliche Flügel der CVP-Mitte haben zwischenzeitlich Oberhand gewonnen, indem sie ihre beiden Parteien zu etwas gemacht haben, das ich – im Unterschied zur extremen Linken – als eine Art «moderierte Linke» bezeichne. Mit ihrem überbordenden Klientelismus der vergangenen Jahre (Arbeitsplätze, Verwaltungsratssitze, verschiedene Pfründe) der funktionierte, bis dann die Lega erstmals dagegen einschritt.
Die Liste ohne Parteibezeichnung
Der grösste Wahlerfolg der Lega und ihre Anfänge sind teilweise sicherlich darauf zurückzuführen, dass Angehörige der historischen Parteien ihre Partei verlassen haben, weil sie sich darin nicht mehr mit einer Partei zu identifizieren vermochten, die ihren politischen Vorstellungen völlig widersprach. Also fanden sie es besser, einer Protestbewegung beizutreten, die kein traditionelles politisches Vorstellungsmuster vorsetzte, mit der man aber hinsichtlich der Bekämpfung der aktuellen Probleme grösstmehrheitlich die Zielvorstellungen teilte.
Zwischenzeitlich wurde die Liste ohne Parteibezeichnung eingeführt, die den Bürgern den trügerischen Eindruck gibt, nicht für eine Partei zu wählen. Dies ist trügerisch, weil – da es für diese Liste keine eigenen Kandidaten gibt, denn sämtliche wählbaren Kandidaten treten auf den traditionellen Listen an – man so oder so die Stimme an den Kandidaten einer bestimmten Partei gibt und ihm dadurch zumindest auch eine persönliche Stimme zusichert. Anders gesagt: Jede für eine Kandidaten abgegebene Stimme entspricht einer (nicht nur führ ihn, sondern auch für die Partei, der er angehört) abgegebenen Stimme. Deshalb gibt man zum Beispiel bei den Wahlen für den Staatsrat (da stehen 5 zugeordnete und 5 nicht zugeordnete Stimmen zur Verfügung) – wohl oder übel – einen Fünftel der Stimmen für seine Herkunftspartei ab. Anders gesagt: Die einem Kandidat auf einer Liste ohne Parteibezeichnung abgegebenen fünf persönliche Stimmen entsprechen einen Parteistimme. Was natürlich die Partei benachteiligt, aber nicht in dem derart drastischen Ausmass, wie sich das die Befürworter der Listen ohne Parteibezeichnung vorstellen. Wem dies nicht klar ist, dem empfehle ich, die entsprechende Internethomepage des Kantons (https://www4.ti.ch/generale/dirittipolitici/elezioni/elezioni-comunali-2016/voto/come-si-vota/valore-delle-schede/scheda-senza-intestazione) zu konsultieren.
Schlussfolgerungen
Die Abspaltungen ergeben keine befriedigende Lösung des Problems, dass eine Partei die Wünsche und Vorstellungen der Wähler nicht zu 100% erfüllen kann. Denn die Kleinstparteien oder die «ad hoc» entstandenen Bewegungen, um eines oder wenige Probleme zu lösen oder um die persönlichen Ambitionen einzelner ihrer Exponenten zu befriedigen, werden nicht genügend stark sein, um den Erwartungen ihrer Wählerschaft gerecht zu werden. In der Regel stellen die Wähler dies erst im Verlaufe der Jahre fest, um dann auf ihre ursprünglichen Positionen zurück zu kehren und wieder zusammen zu halten; manchmal geschieht dies dadurch, dass sie dies – sofern sie eine hinreichende Anhängerschaft erreichen – mittels anderslautender Benennung (siehe PSA, PSU, PST etc.).
Ansonsten werden sie fortfahren mit ihren Slogans wie «Kohärenz» oder ihrer Zusicherung, «gehört zu werden», die sie ihren Wählern abgeben – dies ohne jede Hoffnung, irgend etwas verändern zu können. Da gibt es aber auch – ohne Namensnennung – seit rund 30 Jahren Leute, die sich alle vier Jahre unter immer wieder anderen politischen Mäntelchen zur Wahl stellen, wobei man nicht weiss, ob sie dies nach dem Motto «steter Tropfen höhlt den Stein» oder «wichtig ist es, dabei zu sein» tun. Im Tessiner Politgeschehen ist wahrhaft genügend Platz für alle.
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