Das gitt mi nüüt aa!

Apr 1 • Deutsche Seite, L'editoriale, L'opinione, Prima Pagina • 288 Views • Commenti disabilitati su Das gitt mi nüüt aa!

Eros N. Mellini

Anfangs der 80er Jahre war ein Büchlein mit satirischen Cartoons von Romano Chicherio mit dem Titel «Una città chiamata Lugano» (Eine Stadt mit Namen Lugano) in Umlauf. In einem seiner Abschnitte, welcher der Polizei gewidmet wurde – die damals für ihre scharfe Bussenpraxis berüchtigt war – hob man die Standardreaktion der Beamten gegenüber jenen Leuten hervor, die Ausreden suchten, um die Busserteilungen möglichst abzuwenden: «Das gitt mi nüüt aa!» (das geht mich nichts an).

Ich komme nicht umhin, gewisse Parallelen zu erkennen zwischen dieser – sicher nur vermeintlichen und zu satirischen Zwecken hervorgehobenen – eher rüpelhaften Haltung der Polizei, und jener Haltung, welche die Leute heute mehrheitlich einnehmen im Hinblick auf die mediale Kommunikation über das Tagesgeschehen.

Heute spielt sich diesbezüglich mehr oder weniger ständig das folgende Szenario ab, unterteilt in fünf Phasen:

  1. Die Medien berichten über ein erfolgtes oder im Gang befindliches Ereignis und geben hierzu oft grundlos ihren willkürlichen redaktionellen «Senf» (Kommentar) ab;
  2. Die Medien befürworten die Haltung der Behörden, indem sie unkritisch all das verbreiten, was dessen alleinseligmachenden Standpunkt stützt;
  3. Die öffentliche Meinung teilt sich auf in jenen Teil (die überwiegende Mehrheit), welcher für diese wiederkehrende, respektive eingeimpfte, Geisteshaltung eintritt, und dem anderen Teil (üblicherweise die Minderheit), der sich gegen den Durchsetzungsversuch dieses Einheitsgedankens auflehnt, indem er, wann immer möglich, gegen die Thesen der Gegner protestiert;
  4. Was eigentlich zu einer heilsamen Debatte führen könnte, artet bald zu einem richtiggehenden Glaubenskrieg aus, in welchem sich die «Guten» (selbstverständlich verstanden als die Vertreter der eigenen Meinung) und die «Bösen» gegenüber stehen;
  5. Jegliche dem «Mainstream» entgegen laufenden Einwände – so berechtigt sie auch sein mögen – zerbrechen an der eingangs erwähnten Standardreaktion des Polizeibeamten: «Das gitt mi nüüt aa!».

Das war bereits bei der Covid-19-Diskussion so und findet nun beim laufenden Russland/Ukraine-Krieg statt. Die Informationen darüber werden nur dann als wahr und glaubwürdig betrachtet, wenn sie die eigene Meinung, oder schlimmer noch, die eigenen Ängste bestätigen. Und leider gibt es das Internet mit seinen «Social Networks», die als Resonanzkasten wirken für die Verbreitung von Nachrichten, Falschmeldungen, Riesendummheiten und idiotischen Kommentaren. Eine Nachricht braucht nicht wahr zu sein, es genügt vollumfänglich, wenn sie zur Stützung der eigenen Meinung einigermassen glaubhaft erscheint.

So hat man zum Beispiel – um die Gefährlichkeit des Covid-19-Virus zu manifestieren – eine Photo gepostet, in welcher eine Kolonne von Särgen abgebildet ist von Opfern in Bergamo. In Tat und Wahrheit wurde diese Photo 2013 aufgenommen – als von Covid-19 noch keine Rede war – und sie betraf die Opfer eines Schiffsunglücks bei Lampedusa.

Wenn man diese offensichtliche Zeitungsente ankreidet, kriegt man die banalisierende Antwort: «Das gitt mi nüüt aa!», denn Tote habe es in Bergamo ja gegeben, und man dürfe die Gefährlichkeit des Virus nicht abstreiten.

Heute hat Covid-19 glücklicherweise viel von seinem medialen Interesse verloren, denn die Berichterstattung wurde überholt von jener über den «Öffentlichen Feind Nummer 1» Putin. Und anstelle der Särge von Bergamo wurden die Photos der Bombardierung von Kharkov gezeigt, die sich danach als Aufnahmen herausstellten, die im Jahre 2020 in Beirut aufgenommen worden waren.

Aber eben:  «Das gitt mi nüüt aa!»; denn – so tönt es vorwurfsvoll – möchte man denn mit einer kritischer Hinterfragung der Dinge suggerieren, dass die Ukraine nicht von den Russen bombardiert worden sei? Putin sei so oder so a priori ein Verrückter, ein Schurke, oder?

Nun ist es keineswegs so, dass ich den russischen Premier als Engel betrachten würde. Aber man darf nicht sämtliche in der Vergangenheit von der NATO und den USA begangenen Fehler zu einem höchstens noch archivierbaren Mist erklären; es sind Fehler, die man – da sie (zumindest nach russischer Ansicht) Russland zu seiner wahrscheinlich unüblich harten Haltung veranlasst hat – nicht mit einem simplen «Das gitt mi nüüt aa!» als lässliche Sünde abtun kann.

Und man darf nicht unkritisch sämtliche Nachrichten als richtig betrachten, die – je nachdem von welcher Konfliktpartei sie stammen – sehr oft der jeweiligen Kriegsstrategie entsprechen, um die öffentliche Meinung zugunsten der eigenen Seite zu beeinflussen. Ich habe ellenlange Artikel gelesen, in welchen dargelegt wurde, dass Putin den Krieg bereits vor Kriegsauslösung verloren habe, weil er im heldenhaften ukrainischen Widerstand auf ein unüberwindbares Hindernis stossen würde. Aber wie kann man denn an solch dummes Zeug glauben? Russland wäre jederzeit in der Lage, genügend militärische Kräfte einzusetzen, um die Ukraine innert weniger Tage zu vernichten. Wenn Russland das nicht tut, dann gibt es dafür wahrscheinlich gute Gründe, wie jene, dass man aus einer eroberten Ukraine kein Massengrab machen will, oder der Wille, im Hinblick auf Friedenverhandlungen eine Lösung zu erreichen, um den Anschluss jener ukrainischen Territorien zu rechtfertigen, die für Russland wichtig sind, oder aber aus anderen Gründen, die nur Putin alleine kennt.

Ich lese im Wikipedia bezüglich Joseph Göbbels, dem berüchtigten Propagandaminister des III. Reichs (sinngemäss): Er wendete eine zu seiner Zeit als äusserst wirkungsvoll betrachtete Überzeugungsmethode an, ausgehend von den Theorien des Behaviorismus (Forschungsrichtung, die sich nur mit dem objektiv beobachtbaren und messbaren Verhalten beschäftigt), basierend auf der kontinuierlichen Verbreitung einer von seitens der Machthaber ständig stets streng kontrollierten parteiischen Übermittlung von Nachrichten oder von klaren Falschmeldungen. Nun scheint es mir so, dass sich die Geschichte wiederholt. Nur ist es heute so, dass es nicht mehr nur das deutsche Volk ist, das mit an Fanatismus grenzender Überzeugung die ständig verbreiteten parteiischen oder klar falschen (oder zumindest zurechtgebogenen) Nachrichten erhält.

«Cui prodest» dies alles, d.h. zu wessen Nutzen geschieht es?

Ich kann es nicht wissen, und alles in allem «gitt mi das ja nüüt aa!».

 

 

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